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Eine kurze Einführung in die tibetische Geschichte

Chinesische Ansprüche

Als Urmutter der chinesisch-tibetischen Zusammengehörigkeit nennen die Chinesen die Prinzessin Wen Cheng. Sie heiratete 641 den tibetischen König Songtsen Gampo und zog mit einem großen Gefolge in die kurz zuvor gegründete tibetische Hauptstadt Lhasa. Wen Cheng war Buddhistin und in ihrem Hofstaat befanden sich viele buddhistische Lehrer. Nach chinesischer Geschichtsschreibung hat sie den Buddhismus nach Tibet gebracht. Dabei hatte der tibetische König vier Jahre zuvor die nepalesische Prinzessin Bhrikuti Devi geheiratet; ebenfalls eine Buddhistin. Sie war die erste historisch gesicherte Person, die den Buddhismus auf das Dach der Welt gebracht hat. Zudem hat sich die indisch-nepalesische Form des Vajrayana-Buddhismus bald gegenüber dem chinesischen Zen-Buddhismus durchgesetzt.

Ein weiterer Meilenstein in der chinesischen Argumentation ist die Yuan-Dynastie, die von 1278 bis 1368 über China geherrscht hat. Zu ihrem Einflussbereich gehörte auch Tibet. Träger der Yuan-Dynastie waren jedoch die Mongolen, die von der chinesischen Bevölkerung als Fremdherrscher empfunden wurden.

Die mongolische Herrschaft war für Tibet ausgesprochen fruchtbar. Es gab eine klare Gewaltenteilung: Die Mongolen beanspruchten die weltliche Gewalt, aber sie akzeptierten die geistliche Autorität des tibetischen Klerus. Einige bedeutende Äbte wurden sogar als Lehrer an den mongolischen Königshof gerufen. Im Land selbst entstanden die bis heute wichtigen buddhistischen Schulen, darunter die Gelugpa, die Tugendhaften, deren Oberhaupt der Dalai Lama ist.

In China folgte auf die Yuan- die Ming-Dynastie. Aus dem Ende der Epoche, dem Jahre 1594, stammt eine Karte eines hohen Beamten mit den Grenzen des damaligen Reiches. Tibet ist darauf als Ausland eingezeichnet. 1650 besuchte der Dalai Lama die chinesische Hauptstadt. Er wurde dort als Staatsgast und nicht als Provinzfürst empfangen.

Souveränität und Reformen

Die chinesischen Kaiser von der mandschurischen Qing-Dynastie übten erst seit dem frühen 18. Jahrhundert einen gewissen Einfluss in Tibet aus, doch nach dem Sturz des letzten Kaisers 1911 erhoben sich tibetische Verbände und vertrieben die chinesischen Soldaten aus Lhasa. Der 13. Dalai Lama rief daraufhin die Unabhängigkeit Tibets aus.
Auch die neue bürgerliche Führung in Peking hielt an ihrem Anspruch auf Tibet fest. Eine von den britischen Kolonialherren im benachbarten Indien initiierte Konferenz in Simla zur Klärung der Statusfrage endete 1914 ohne Ergebnis. Faktisch einigten sich beiden Staaten schließlich auf den Yangtse-Fluss als Tibets Ostgrenze.

Das Land war zur Zeit der Unabhängigkeit alles andere als ein theokratischer Musterstaat. Die Klöster besaßen den größten Teil der landwirtschaftlichen Nutzfläche. Sie hielten viele Bauern in Schuldknechtschaft und übten zudem das Bildungsmonopol aus. Eifersüchtig wachten sie über ihre Privilegien. Niemand anders als der 13. Dalai Lama selbst erkannte, wie reformbedürftig das Land war, und er machte sich daran, die tibetische Gesellschaft grundlegend umzugestalten. In seiner Epoche gab es die erste weltliche Schule und auch die wirtschaftliche Macht der Mönche wurde beschnitten. Sein Nachfolger, der heute im indischen Exil lebende 14. Dalai Lama, befreite viele Bauern aus der Schuldknechtschaft, indem er alle Schulden, die älter als acht Jahre waren, tilgte und bei den jüngeren die Zinszahlungen aussetzte.

Viel Zeit blieb ihm nicht mehr, denn Veränderungen des großen Nachbarn China warfen ihre Schatten auf die Entwicklung in Tibet. Dort hatte Mao Tsetung nach dem Sieg der Volksbefreiungsarmee im Bürgerkrieg am 1. Oktober 1949 die Volksrepublik China ausgerufen. Eine seiner ersten Forderungen war die "Heimkehr Tibets ins chinesische Mutterland". Da es in Tibet keine nennenswerte gesellschaftliche Gruppe gab, die diese Forderung unterstützte, marschierte die Volksbefreiungsarmee in Tibet ein. Die internationale Staatengemeinschaft kümmerte sich nicht um den Gewaltakt.
Um der Annexion eine rechtliche Basis zu verschaffen, komplimentierte die chinesische Führung im Mai 1951 eine hochrangige tibetische Delegation, in der allerdings der Dalai Lama fehlte, nach Peking. Ihr wurde ein "17 Punkte Abkommen zur friedlichen Befreiung Tibets" vorgelegt, das die Eigenständigkeit des Landes aufhob. Gleichzeitig wurde den Tibetern jedoch weitgehende innenpolitische Autonomie zugestanden.

Zerstörung einer Kultur

Im September 1951 erreichten die chinesischen Truppen Lhasa und acht Jahre lang gab es eine relativ friedliche Koexistenz von traditioneller tibetischer Verwaltung und chinesischem Militär. Ende der fünfziger Jahre wuchsen die Spannungen. Sie eskalierten schließlich am 10. März 1959, als es Anzeichen gab, dass der Dalai Lama nach Peking entführt werden sollte. Tausende von Tibetern strömten zum Palast, um ihr Oberhaupt zu schützen. Gegen die chinesische Übermacht hatten sie jedoch keine Chance. Der Aufstand wurde blutig niedergeschlagen, aber dem Dalai Lama gelang als Soldat verkleidet bei Nacht die Flucht. Seitdem lebt er im indischen Exil. Ihm folgten bis heute etwa 120.000 weitere Tibeter.

Die Zurückgebliebenen erlebten eine Epoche brutaler Unterdrückung. Alles Tibetische sollte ausgelöscht werden. Die Freizügigkeit wurde aufgehoben, der Besitz religiöser Gegenstände verboten, die Landwirtschaft kollektiviert. Selbst Haustiere oder Blumen auf der Fensterbank galten als Beweis für "kleinbürgerliche Gesinnung" und zogen schwere Strafen nach sich. Am schlimmsten litten die Menschen in den Arbeitslagern, die eher Vernichtungslagern glichen.

Mit der Großen Proletarischen Kulturrevolution 1966 verschärfte sich der Druck auf alles Tibetische noch mehr. Zehn Jahre später, nach dem Tode Maos und der Entmachtung seiner radikalen Nachfolger, war das Land nicht wiederzuzerkennen. Mehr als eine Million Menschen waren in Arbeitslagern, bei Massakern, durch Exekutionen oder Hunger ums Leben gekommen. Die Landwirtschaft war für Jahre ruiniert. Von den fast 6.000 Tempeln und Klöstern hatten nur 13 die Zerstörungen überstanden. Der größte Teil war bereits vor der Kulturrevolution dem Zerstörungswahn zum Opfer gefallen.

Neue Methoden – alte Ziele

Nach einer gewissen Liberalisierung in den achtziger Jahren haben sich heute zwar die Methoden, nicht jedoch die Ziele der chinesischen Tibetpolitik verändert. Es geht noch immer um die Zerstörung der tibetischen Identität, um endlich ungehinderten Zugang zu dem Land zu haben. In den historischen Landesgrenzen sind die Einheimischen bereits zur Minderheit im eigenen Land geworden. Mindestens acht bis neun Millionen Chinesen siedeln dort; womöglich sogar mehr als zwölf Mio., da der Zuzug kaum kontrolliert werden kann. In den größeren Städten Zentraltibets stellen die Tibeter allenfalls noch ein Viertel der Bewohner. Um Platz für neue Siedler zu schaffen, lässt Peking in Lhasa und anderswo die alten Stadtkerne abreißen und durch neue Betonbauten ersetzen. Deren Mieten können fast nur Chinesen zahlen. Damit erreicht die Regierung noch etwas anderes. Bei Demonstrationen können die Menschen nicht mehr auf die Unterstützung der Anwohner rechnen, die schon manchen vor dem Zugriff der Polizei gerettet hat. Zudem werden die alten Viertel übersichtlicher für die Sicherheitskräfte. Überwachungskameras im gesamten Stadtkern von Lhasa sorgen zudem für eine gespenstische Atmosphäre. Der letzte große Aufstand vom März 2008, der von Lhasa ausging und weite Teile Zentral- und Osttibets verfasst hat, hatte seine Ursache in der hilflosen Wut der Tibeter über diese Entwicklung.

Darüber hinaus ist die tibetische Hochebene zu einem waffenstarrenden Militärarsenal geworden. Neben einer halben Million chinesischer Soldaten sind dort Stützpunkte für Lang- und Mittelstreckenraketen, eine atomare Forschungsanlage sowie zahlreiche Militärflughäfen mit J7-Jagdgeschwadern und amerikanischen Sikorsky S 70 c Black Hawk Hubschrauberstaffeln installiert. Die Militärpräsenz soll nicht nur Unruhen im Keim ersticken; dafür bedarf es schließlich keiner Jagdbomber. Sie dient auch der Machtdemonstration gegenüber den süd- und südostasiatischen Nachbarn.
Ein anderer Grund für das chinesische Interesse sind die reichhaltigen Bodenschätze. Schon im kaiserlichen China hieß Tibet das "Schatzhaus des Westens". Dieses Schatzhaus wird nun rücksichtslos geplündert. Die großen Waldbestände Tibets, die zur Zeit der chinesischen Besetzung etwa 220.000 Qkm umfasst haben (das entspricht etwa 60 Prozent der Fläche Deutschlands), sind zur Hälfte abgeholzt. Die Folge sind Erosionen und Überschwemmungen, denn die kahlen Hänge können den starken Monsunregen häufig nicht halten. Neben Holz verfügt Tibet über Gold, Uranerz, Lithium, Borax, Eisen, Kupfer und andere Metalle. Mit deren Ausbeutung leisten die Tibeter einen unfreiwilligen Beitrag zum Wirtschaftsboom im China. Gerade Holz ist rar im übervölkerten Reich der Mitte.

Die Klöster bilden das Rückgrat des tibetischen Überlebenskampfes. Etwa 2000 durften wieder aufgebaut werden; dann, so beschied China, war kein Bedarf mehr vorhanden. Diese Zahl reicht bei weitem nicht, um allen, die eine geistliche Laufbahn einschlagen möchten, einen Platz im Kloster zu ermöglichen, doch aus politischen Gründen möchte Peking die Zahl des Klerus nicht größer werden lassen. Zudem fehlen den Klöstern die wirtschaftliche Grundlage und die Lehrer, um ihrer Aufgabe gerecht zu werden.

Klemens Ludwig